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Menschen mit Behinderungen: Durch Gesundheitsreform steigen Kosten

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Foto vom Emmelmann im Büro

Bild: ©Jens Wiesner

"Gleichberechtigte Teilhabe ist stark gefährdet"

Im Interview äußerst sich Volker Supe, Ansprechpartner zum Thema Behindertenhilfe im Caritasverband der Diözese Münster, über die Kosten, die Menschen mit Behinderungen für ihre Gesindheit ausgeben müssen.

Volker Supe ist Ansprechpartner zum Thema Behindertenhilfe im Caritasverband der Diözese Münster. Im Interview mit "kirchensite.de" erklärt er, wie viel Geld Menschen mit Behinderungen für ihre Gesundheitskosten ausgeben müssen und welche Auswirkungen die Kosten auf das Leben der Menschen hat.

Wie viel Geld müssen Menschen mit Behinderungen in der Regel für ihre Gesundheitskosten aufwenden?

Volker Supe: Die tatsächlichen Gesundheitskosten sind in der Praxis deutlich höher als die gesetzlich vorgesehene Zuzahlungsgrenze von einem Prozent vom Gesamteinkommen. Entscheidend ist, dass Menschen mit Behinderungen von vielen Erkrankungen stärker betroffen sind als andere. 2004 haben wir festgestellt, dass fast die Hälfte der Bewohner in den Wohnheimen auf zirka 100 Euro im Jahr kommt. Die Summe hört sich erstmal nicht sehr hoch an. Wenn man den Betrag allerdings im Prozentsatz des verfügbaren Einkommens ausdrückt und es auf das eigene Gehalt umrechnet, wird es schon deutlicher: 
So hat ein Mensch mit Behinderungen im Wohnheim nur einen Barbetrag von zirka 90 Euro im Monat zur Verfügung. Der Besucher einer Werkstatt für behinderte Menschen verdient zusätzlich noch 75 Euro.

Wie setzen sich diese Kosten zusammen?

Volker Supe: Die Zuzahlungen im Rahmen der Ein-Prozent-Grenze beziehen sich auf die Praxisgebühren und die Gebühren für rezeptpflichtige Medikamente. Aber für Menschen mit Behinderungen sind oft gerade die Kosten für nicht verschreibungspflichtige Medikamente die entscheidenden. Als Beispiel: Menschen mit Down-Syndrom neigen zu Nagelbettentzündungen und Pilzerkrankungen. Um diese zu kurieren, brauchen sie kontinuierlich nicht verschreibungspflichtige Medikamente. Oder Menschen, die eine Spastik haben, leiden häufiger unter Verstopfung. Auch diese Mittel müssen sie voll bezahlen.

Wie unterscheidet sich die Situation für Bewohner in einer Einrichtung mit der von Menschen, die bei ihrer Familie oder in einer eigenen Wohnung leben?

Volker Supe: Zum einen haben Bewohner eines Wohnheimes in der Regel einen höheren Hilfebedarf und damit häufig auch mehr gesundheitliche Einschränkungen. Zum anderen ist deren finanzieller Spielraum begrenzter.

Was bedeuten diese Kosten konkret für die Menschen?

Volker Supe: Wo nur wenig frei verfügbares Geld ist, schränkt es natürlich besonders dort ein, wo es um Teilhabe geht: Freizeitaktivitäten, Freunde treffen, in den Urlaub fahren. Das ist besonders schade, weil das übergreifende Ziel von Eingliederungshilfe ja die Teilhabe am Leben der Gemeinschaft ist. Diese Teilhabe am Leben ist durch die finanzielle Belastung durch Gesundheitskosten ganz stark gefährdet.  

Wann ist dieses Problem zuerst aufgetreten?

Volker Supe: Sofort nach der Umsetzung der Gesundheitsreform 2004, mit der die Zuzahlung eingeführt wurde und eine ganze Reihe von Medikamenten aus der Verschreibungs- und damit aus der Erstattungsmöglichkeit der Krankenkassen herausgefallen ist. Dabei ging es der Politik grundsätzlich um eine Einschränkung der Finanzierung der Selbstmedikation von Bagatellerkrankungen: Medikamente gegen Schnupfen oder Mittel wie Aspirin, die unsereins zwischendurch einnimmt. An dieser Stelle wurde jedoch übersehen, dass für bestimmte Krankheitsbilder auch nicht verschreibungspflichtige Medikamente zum Behandlungsstandard gehören und kontinuierlich begleitend und dauerhaft genutzt werden. Zwar gibt es Ausnahmeregelungen wie für bestimmte Krebsformen, aber eben noch nicht für behinderungsbedingte Krankheiten. Auch die Sehhilfen werden seitdem nicht mehr bezahlt. Viele Behinderte haben eine Brille, gehen mit ihr aber behinderungsbedingt etwas weniger sorgsam um, als wir das tun.

Gibt es auch positive Änderungen?

Volker Supe: Bei der letzten Gesundheitsreform 2007 sind eher positive Dinge passiert. Zum Beispiel wurde die häusliche Krankenpflege ausgeweitet. Bisher konnte häusliche Krankenpflege nur ganz konkret in der Häuslichkeit des Menschen mit Behinderungen durchgeführt werden, also bei der Familie. Mit der Gesetzesänderung kann das nun auch in anderen geeigneten Orten geschehen, in Förderschulen, in heilpädagogischen Tageseinrichtungen für Kinder oder im betreuten Wohnen. In der Regel befindet sich ein Kind, das behindert ist, tagsüber ja im heilpädagogischen Kindergarten und benötigt die Hilfe dort und nicht abends, wenn es wieder zuhause ist. Eine konsequente Ausweitung des Begriffs der Häuslichkeit auch auf Wohnheime für Menschen mit Behinderung, die ja deren Wohnort darstellen, fehlt allerdings nach wie vor.

Wie müsste man auf die beschriebenen Probleme reagieren? Was sind ihre Forderungen an die Politik?

Volker Supe: Mit der Gesundheitsreform 2004 ist der Paragraf 2a mit ins Gesetz über die gesetzliche Krankenversicherung gekommen, der festgelegt: "Den besonderen Belangen behinderter und chronisch Kranker ist Rechnung zu tragen." Dieser Satz muss umgesetzt und bei jedem Vorhaben, bei jedem Paragrafen berücksichtigt werden. Kurz- oder mittelfristig brauchen wir eine Regelung, nach der nicht verschreibungspflichtige Medikamente, die aufgrund eines behinderungsbedingten Behandlungsbedarfs notwendig werden, durch die Krankenkassen erstattet werden. Die Situation der Menschen ist sehr klar darstellbar, und ich glaube auch, dass man es auf bestimmte Fallkonstellationen und Behinderungsbilder eingrenzen kann. Es ist ja immer so mit komplexen Gesetzgebungsvorhaben: Der Einzelfall oder Besonderheiten bei kleineren Gruppen werden nicht gesehen, und dann muss im Nachgang Aufklärungsarbeit geleistet werden. Kurzfristig erwarte ich aber keine Änderungen. Wenn die Politik das gewollt hätte, hätte sie es bei der letzten Nachbesserung 2007 gemacht. Die Fakten sind mittlerweile bekannt. Aber wie heißt es so schön: Nach der Gesundheitsreform ist vor der Gesundheitsreform. Wir werden uns von Seiten des Diözesancaritasverbandes auf jeden Fall weiter für eine entsprechende Änderung einsetzen.

Erschienen auf: Kirchensite.de, 23.4.2008