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F R E I E R     J O U R N A L I S T   &  

F O T O G R A F

MEHR ZUM THEMA

Das Stadtlichh-Magazin erscheint seit Dezember 2010 quartalsweise, aktuell mit einer Auflage von 20.000 Stück. Es liegt gratis in Hamburg aus. Man kann es auch im Abo zugeschickt bekommen. Dann kostet es aber Geld.

HINTER DEN KULISSEN

Dieser Artikel ist Teil des Orient-Express-Reporter-Tripled von Café Babel. Zwei Reporter, mit denen ich bereits in der Türkei war, haben mir einen Gegenbesuch abgestattet, um Hamburg mit Stift, Zettel und Kamera auf den Zahn zu fühlen.

Soviel zur Theorie. Cansu aus der Türkei ist leider nur bis zum Flughafen gekommen und musste aufgrund von Visa-Problemen unverrichteter Dinge wieder umkehren.

Nicolas Datiche hat es dagegen - Schengen sei Dank - ohne Probleme über die Grenze geschafft und das Gängeviertel porträtiert. Die pfälzische Küche hingegen lag dem Franzosen noch etwas länger im Magen.

Nicolas Datiche - Unterwegs im Gängeviertel: Häuserblock des Hamburger Widerstands

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 CAFE BABEL

 

Abduls Schatten auf dem Asphalt

©Kathrin Brunnhofer/Stadtlichh

STADTLICHHe Leistung: Vier Hamburger, ein Stadtmagazin

Print ist tot? Ach, nee! Martin, Valerie, Ulrike und Anne haben in Hamburg ihr eigenes Stadtmagazin gegründet. Mit tiefgründigen Reportagen, Fotokunst und Raum für Abseitiges. Das Ganze ist gratis zu lesen. Wenn man jetzt noch davon leben könnte...

Nun aber schnell. Wie zur Hölle kann man sich bei einem Termin verspäten, der nur fünf Minuten von der eigenen Haustür entfernt liegt? Dachte ich zumindest. Und dann dauerte es doch eine Viertelstunde von meiner Heimhaltestelle Königstraße bis zur Türschwelle des Glöe. In dem schnuckeligen Souterrain-Café nahe der Hamburger Reeperbahn treffe ich (leicht angeschwitzt und aus der Puste) Martin Petersen und Valerie Schäfers (schon Milchkaffee schlürfend). Die beiden Mittdreißiger haben mir die neueste Ausgabe ihres Babys Stadtlichh mitgebracht. Gut so. Denn im Glöe ist das Gratis-Stadtmagazin "für Hamburger Gelegenheiten" schon vergriffen. Und sogleich macht sich Martin eine Gedankennotiz: Wiederkommen! Nachlegen!

Zum Jahreswechsel 2009/2010 schlürften Martin und Valerie auch Kaffee, damals allerdings grübelnd. Sie hatte gerade in ihrer Designagentur gekündigt. Er war unzufrieden mit seinem Job bei einer Gaming-Zeitschrift. Und während das Koffein so ihre Kehlen hinunter lief, schoss ihnen wieder diese fiese, große, existentielle Frage durch den Kopf: Was will ich eigentlich mit meinem Leben machen? Wohin soll es gehen? Martins Antwort: ein eigenes Magazin. Valeries Antwort: ein eigenes Magazin. Deal.

"Oft läuft man im Leben nur von einem Punkt zum anderen, man macht und macht und ist so beschäftigt, dass man sich diese wichtige Frage gar nicht mehr stellt." Sagt Martin. Texte geschrieben, Seiten gestaltet, das hatten sie beide schon. Sie, Kommunikationsdesignerin, die Frau mit dem Auge. Er, Magister der Anglistik und Philosophie, der Mann für die Buchstaben. Was braucht es da noch mehr?

Ulrike und Anne zum Beispiel. Zwei Freunde, auch aus der Branche, mit genauso viel Bock auf etwas Eigenes. Da waren sie schon zu viert. Team Stadtlichh - komplett.

Abduls Schatten auf dem Asphalt

©Stadtlichh

In Hamburg brodelte es zu jener Zeit mächtig. Ein Haufen Künstler und Linker hatten das Gängeviertel im Stadtzentrum besetzt. Die alten Häuser aus der Gründerzeit sollten den typischen Glasbürokästen weichen. Und dann geschah, womit nicht mal die Besetzer rechneten: Quer durch die sonst unversöhnlichen Schichten solidarisierten sich die Hamburger mit dem Protest. Und was soll auch machen, wer wiedergewählt werden will? Ein paar Kilometer entfernt versuchten Andere Ähnliches: Das Frappant, ein der Krise zum Opfer gefallener Karstadt, wurde besetzt. Vergebens. Abrissbirne, aber immerhin: Für die Künstler gab’s Ausweichquartiere.

In der lokalen Presse gab es darüber wenig zu lesen. Zumindest wenig Hintergründiges. Dabei gierte es nach Informationen: Gentrifizierung. Stadtentwicklung. Mietpreisexplosion. Schickimickisierung. Iba. Buga. U4. War da was? "Mir war klar, das hier was fehlt." Sagt Martin. Nimmt einen Schluck. Gut, dass für Marktforschung kein Geld da war.

"Wir wollten eben nicht so ein vollgestopftes Anzeigenmagazin. Es sollte hochwertig aussehen: seitenumspannende Fotografien, große Fonts, Illustrationen. Gestaltung ist genauso wichtig wie der Inhalt." Sagt Valerie. Könnte Begeisterung glitzern, sie würde es in ihren Augen tun. Eine Art Direktorin, die am Ende des Tages Textblöcke und Fotos auf einem Raster hin und herschiebt, will sie nicht sein. Valerie möchte mitkommen auf die Interviewtermine. Kommunikation fördern zwischen allen, die an einem Artikel beteiligt sind.

Abduls Schatten auf dem Asphalt

©Stadtlichh

Ohne Moos...

Fehlt noch was? Ach ja, die Knete. Genauer gesagt: 4500 Euro für sechs Ausgaben zu 10.000 Exemplaren. Nur woher nehmen? Acht Förderer angeschrieben, fünf Absagen erhalten, zwei meldeten sich gar nicht. Und dann: die Rettung.

Jedes Magazin braucht einen guten Gründungsmythos, am besten, er ist wahr. "Die Medienstiftung war unser letztes Eisen im Feuer - eigentlich fördern die gar keine Printmagazine." Erinnert sich Martin. Am letztmöglichen Tag hatte er die Bewerbung eingeworfen. Nachtpostkasten. Und dann der Anruf von Anne, viel später: "Wir machen gerade einen Sekt auf."

Im August dann Produktion des ersten Dummys. 100 Stück, ein Fötus, dem späteren Baby schon recht ähnlich. "So hatten wir schon für die erste Ausgabe bezahlte Anzeigen." Sagt Martin. Überhaupt, die Anzeigen. Stehen geordnet links und rechts am Seitenrand. Getrennt vom redaktionellen Inhalt. Mittlerweile ist das erwähnenswert. "Advertorials lehnen wir ab. Wir wollen unsere Leser nicht verarschen."

Abduls Schatten auf dem Asphalt

©Stadtlichh

... was los?!

Bei der zweiten Nummer hilft Crowdfunding noch einmal nach, dann läuft die Kiste. Als die Förderung nach fünf Ausgaben ausläuft, steht das Kind auf eigenen Beinen. Was nicht heißt, dass die vier davon leben können. Alle haben Jobs nebenher. Stadtlichh ist ein Kind der Liebe, keins des Kommerzes.

Und Kontributoren? "Das einzige, was wir bezahlen können, ist die Anzeigenakquise, da bekommt man Prozente. Mehr ist wirtschaftlich leider nicht drin." Sagt Martin. Und findet das nicht schön. Trotzdem ist er überzeugt von seinem Baby: "Das Magazin ist erfolgreich, auch wenn wir kein Geld damit verdienen." Und wenn man doch etwas Geld nähme?

Über diese Frage denkt Martin manchmal nach. Und dann rattern die Probleme durch seinen Kopf: Wie erkläre ich meinen Lesern, plötzlich zahlen zu müssen? Die Auflage würde einbrechen, die Anzeigenakquise schwieriger. Und vom Verkaufspreis blieben nur 50 Prozent beim Verlag. 25 Prozent gehen standardmäßig an den Großvertrieb, 25 Prozent erhält der Kiosk. Und dann ist da noch dieses unkonventionelle, unhandliche Format: Viel zu groß für ein Standardmagazin.

Und die Zukunft? Ja, die Zukunft. "Es gibt schon Leute, die sagen: Werdet mal erwachsen! Die haben für sich gemerkt, es geht so nicht weiter, aber anders, und die verdienen jetzt selber. Aber ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, dass es so weiter gehen kann: mit einem Magazin, das genauso ist, wie wir es haben wollten." Sagt Martin.

"Ja, bitte." Sage ich. Mein Milchkaffee ist kalt.

Dieser Artikel ist als Teil des Reportageprojekts "Orient Express Reporter Tripled" am 22. November 2012 auf cafebabel.com erschienen. Der Autor kannte die Macher des Magazins nicht, hat aber schon vor der Recherche gerne zu einer Ausgabe gegriffen.