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J E N S     W I E S N E R
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F R E I E R     J O U R N A L I S T  & 

F O T O G R A F

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 KURZGESCHICHTE

 

figuren vor der hamburger bücherhalle, nachts, auf dem Kopf stehend

©Jens Wiesner

Angenommen.

Ich war sieben, da redeten wir in der Schule über Adoption. Ich glaube, es war im Sachkundeunterricht. "Das ist, wenn Eltern ein Kind annehmen, das nicht ihr eigenes ist", sagte unser Lehrer, Herr Glückauf.

Jedes Mal, wenn Herr Glückauf uns etwas erklärte, musste ich wie gebannt auf seinen Schnauzbart starren, weil der eine viel dunklere Farbe hatte als der Rest seiner angegrauten Kopfhaare. Was für mich nur Faszination an diesem unerklärlichen Farbunterschied war, schien Herr Glückauf als pures und von Herzen kommendes Interesse an seinem Unterricht misszuverstehen. Glück für mich. Ich wurde sein Lieblingsschüler und bekam regelmäßig gute Noten ohne mich wirklich anstrengen zu müssen. Sein Publikum war eh ein größeres, es umfasste die gesamte Klasse 2b, 19 Jungen und Mädchen der Grundschule Seedorf. Doch wenn man ihn reden hörte, schien es, als spräche er nicht nur zu uns, sondern zur ganzen Welt. 

Dieses Mal war es anders. Immer wieder schaute mich Herr Glückauf verstohlen an. Wenn er dann bemerkte, dass sich unsere Blicke trafen, wandte er sich ertappt ab. Komisch. Es schien, als spräche er nur zu mir. In meiner Vorstellung verschwanden meine Mitschüler. Tunnelblick. Nun saß ich Herrn Glückauf direkt gegenüber, zwischen unseren Gesichtern nur noch wenige Zentimeter Abstand.

"Das ist, wenn Eltern ein Kind annehmen, das nicht ihr eigenes ist."

Seine Worte brannten sich in mein Gedächtnis. Annehmen. Was für ein seltsames Wort. Man nimmt ein Geschenk an oder ein Lob. Aber ein Kind? Meine Gedanken wanderten weiter ab, in meinem Kopf formte sich ein Bild: meine Eltern im Krankenhaus.

"Entschuldigung", sagt ein Mann im weißen Kittel und zuckt die Schultern. "Wir haben ihr Kind verlegt und können es nicht wiederfinden!" Vater tritt wütend gegen einen Stuhl, Mutter schaut ungläubig: "Na toll. Und was jetzt?"

"Warten Sie mal." Der Arzt zückt ein Notizblock, blättert durch die Seiten. "Hmm... Wir haben da ein noch anderes Baby, gerade reingekommen, das könnten sie als Ersatz mitnehmen!"

Meine Eltern stecken ihre Köpfe zusammen. "Na gut, es ist nicht das Original, aber besser als nichts - oder Margarethe?" "Hast ja Recht, Dieter. Und wir können es sofort mitnehmen." Und dann sprechen die beiden jene magischen Worte, die Dieter und Margarethe zu meinen Eltern machen werden: "Okay, wir nehmen ihn an!"

                                                ***

Zwei Jahre später - wir waren in der vierten Klasse und schon groß -fand meine Mitschülerin Carla eine Kondomschachtel auf dem Spielplatz unserer Schule. Herr Glückauf war nicht mehr Klassenlehrer, wir hatten jetzt Frau Bünker. Und die wusste alles. Also hoben wir die Pappe mit dem seltsamen Comic-Aufdruck auf und legten sie Frau Bünker zur Prüfung vor. Heute stelle ich mir vor, dass sie damals demonstrativ schluckte, kurz aufseufzte und dann zu jener Aufklärungsstunde ansetzte, mit der jede Dr.-Sommer-Lektüre und alle peinlichen Elterngespräche ihren Sinn verlieren sollten.

"Wer von euch weiß denn schon, wie Babys gemacht werden?" fragte Frau Bünker. Zögernd hoben sich einige Arme.

"Das passiert, wenn Mama und Papa sich sehr gern haben!"

"Und sie ein Kind haben möchten."

"Ja, aber es geht nur, wenn sie es ganz doll wollen!"

"Die liegen dann zusammen im Bett"

"Ja, und neun Monate später ist das Baby dann da."

Die Antworten klangen gut. Ich war nur ein bisschen verärgert, dass es nicht meine waren. Und was hatte das Babykriegen jetzt mit dieser komischen schwarzen Verpackung zu tun?

"Das nimmt man, wenn man keine Babys haben will", rief Carina, die schon eine Menge ältere Geschwister hatte, in den Klassenraum. "Weil, der Samen muss ja vom Mann in die Frau eingepflanzt werden!"
    
Verwirrtes Gekicher. Samen? In der zweiten Klasse hatten wir einmal Kresse gezüchtet. Man musste die kleinen, braunen Samen nur in eine Schale mit feuchter Watte legen. Schon am nächsten Tag waren grüne Halme daraus gewachsen. Funktionierte es so auch mit Menschen? Oh Gott! Damals hatte ich einige Samen in den Mund gesteckt und darauf herum gekaut! Schlummerte jetzt ein Kressebaby in mir?  

Frau Bünker kicherte gar nicht. Stattdessen nickte sie Carina verständnisvoll zu. Hatte sie am Ende etwa doch recht? Nein, das konnte nicht sein! Und ich wusste auch genau warum! "Menschen haben doch gar keine Samen, wir sind doch keine Pflanzen", rief ich triumphierend in die Klasse. Zustimmendes Nicken meiner Mitschüler. Nur Carina schaute mich weiter böse an und stampfte mit ihren Füßen auf den Boden: "Aber es stimmt, es stimmt!"

Eine Stunde später war mein Weltbild erschüttert. Igittigitt! Dass Menschen so etwas wirklich tun! Ich schwor mir, niemals im Leben Kinder zu kriegen. Auf dem Nachhauseweg musste ich plötzlich an Herrn Glückauf und seine Adoptionsgeschichte denken. Wie cool es doch wäre, adoptiert zu sein. Dann hätten meine Eltern nicht so eine Sauerei veranstaltet! Nein - ich konnte und wollte mir einfach nicht vorstellen, dass mein ordnungsliebender Vater in der Lage war, solche Dinge zu veranstalten.

Aber, niemand in meiner Klasse war adoptiert. Es war nichts Alltägliches, die Chancen standen gegen mich.

                                                ***

Zuhause angekommen erwartete mich meine Mutter bereits mit Möhreneintopf und dem neuen Fix-und-Foxi-Heft. Normalerweise hätte ich nur kurz "Hallo!" gerufen und wäre in meine routinierte Comic-Trance gefallen. Ich war ein Fan, verschlang alles, was gezeichnet war, vor allem Klassiker wie Micky Maus, Fix und Foxi, Yps und Asterix. Diesmal allerdings ließ ich das Heft unberührt auf dem Tisch liegen und fragte meine Mutter so beiläufig wie möglich:

"Sag mal, bin ich eigentlich adoptiert?"

Innerhalb von Bruchteilen von Sekunden verschwand das gutmütige Lächeln auf ihrem Gesicht: Für einen kurzen Moment weiteten sich ihre Augen, dann senkten sich die Lider wieder nach unten. Tiefer als normalerweise, als hingen plötzlich unsichtbare Gewichte an ihnen. Lange Zeit sagte sie nichts, dann setzte sie sich auf einen unserer Esszimmerstühle und gab mir zu verstehen, dass ich auf ihrem Schoß Platz nehmen sollte. Obwohl ich natürlich schon viel zu groß dafür war, setzte ich mich.

"Versprich mir erst, dass sich niemals etwas zwischen uns ändert!" sagte sie leise. Ich war verwirrt. Was sollte sich denn ändern? Sie war meine Mutter, ich ihr Sohn. Also sagte ich ihr das. Sie seufzte laut auf. Ich konnte förmlich dabei zusehen, wie sich die Worte in ihrem Mund dagegen sträubten ausgesprochen zu werden. Widerspenstig versuchten sie, durch den Rachen zurück in den Magen zu entkommen. Zurück in ihr Versteck. Doch meine Mutter würgte sie immer wieder hoch, Buchstabe für Buchstabe, und schließlich spie sie sie aus:

 "Ja, du bist von uns angenommen worden!"

Da war es wieder. Dieses Wort. Angenommen. Darum hatte mich Herr Glückauf so komisch angesehen. Er musste es gewusst haben. Aber er wollte nicht derjenige sein, der es mir als Erster sagte.

Ich jubelte innerlich. Adoptiert! Meine Eltern hatten also keine ekeligen Bettgeschichten veranstaltet! Puh! Aber wenn Frau Bünker und Carina recht hatten, musste doch trotzdem irgendwer...? In meinem Kopf ging es drunter und drüber. Wenn mich meine Eltern angenommen hatten, musste es auch Menschen geben, die mich weggegeben hatten? Oder hatten mich Margarethe und Dieter etwa gestohlen?

Doch als ich in das Gesicht meiner Mutter schaute, die ich noch nie so ängstlich und unsicher erlebt hatte, schluckte ich die Fragen wieder herunter. Eigentlich auch egal. Diese Menschen hatten sich ganz schön was entgehen lassen: Schließlich war ich ein Einserkandidat - und ein guter Junge dazu, immer freundlich, wohlerzogen und nett. Am wichtigsten war jetzt, dass meine Mutter wieder lächelte. Außerdem wurde es langsam echt unbequem auf ihrem Schoß.

Ich schaute zur Seite, zum Fix-und-Foxi-Heft auf dem Esszimmertisch. "Ist doch alles okay, hab dich lieb", sagte ich beschwichtigend und sprang mit einem Satz auf den Fußboden. "Aber jetzt möchte ich meine Comics lesen!"

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